
„Erkenne dich selbst in dir selbst“ – Orakel von Delphi
Herta Richter, Vortrag und Workshop, AFA-Kongress 2008 in München-Pullach
Selbsterkenntnis als tägliche Übung 
Wir sind beinahe am Ende dieses vollen, großen Kongresses angelangt. Einblicke in die Arbeit mit dem Atem in seinen heilsamen, verändernden, oft erlösenden Wirkungen in so vielerlei Richtungen wurden Ihnen ermöglicht und ich bin sicher, dass Sie daraus bereichert nach Hause gehen werden. Es ist mir eine Freude und Ehre, Sie zum Abschluss aus diesem breitgefächerten Erfahrungsspektrum zurückzuführen, ganz zu sich selbst. Dazu lade ich Sie ein, mit mir zurückzuschauen in die Zeit der griechischen Antike.
Am Tempel des Apoll in Delphi war damals deutlich und für alle sichtbar ein kurzer und markanter Spruch zu lesen:
 ,,Gnothi Seauthon“ – ,,Erkenne dich selbst“
Selbsterkenntnis als tägliche Übung sollte der Anfang sein, die Basis für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt. Es gibt auch die Anfügung „en seauthou“ – in dir selbst. Und das ist das Allerwichtigste dabei.
Das Erkennen der „Innenwelt“ als Zugang zur Begegnung mit der „Außenwelt“
In der Ethik der Stoa, der ca. 300 Jahre vor Christus im griechischen und später römischen Kulturraum entstandenen Philosophenschule, ist diese Forderung von zentraler Bedeutung und steht in Zusammenhang mit der Auffassung, dass der Mensch in Übereinstimmung mit der Natur leben soll. So eben in der Frage nach der allereigensten Natur, nach dem eigenen Wesen. Interessant dürfte sein, dass die Absicht des Kultes in der Auflösung individueller Probleme und Fragestellungen durch die Begegnung mit dem eigenen inneren Wesen liegt. Das Erkennen der „Innenwelt“ diente damit als Zugang zur Begegnung mit der „Außenwelt“.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Stoa Ähnlichkeiten mit dem buddhistischen Gedankengut aufweist. Wer denkt bei den Stoikern nicht an die „stoische Ruhe“? Prinzipien waren die heitere Gelassenheit und die allgemeine Menschenliebe. Die Stoiker hatten einen bedeutenden Anteil an der Herausbildung des antiken Humanismus. Und die Nähe zu den Lehren des Buddha ist unübersehbar. Ein dazu passender Gedanke war z.B.: „Der Sitz der Vernunft im Menschen ist das Herz“.
Auch folgende Überlieferung des Orakels ist bekannt: 
„Erkenne dich selbst
nichts zuviel 
werde, der du bist 
sei!“ 
„Nichts zuviel“ heißt, nichts im Übermaß, finde Dein Maß, das, was Deinem Wesen entspricht.
„Werde, der du bist“ Die Selbsterkenntnis ist das Sprungbrett für die Freiheit. Der Mensch ist nur frei, wenn er zu sich selbst kommen kann. Dies setzt voraus, dass er sich selbst erkannt hat und wird, was er ist.
„Erkenne dich selbst  
nichts zuviel 
werde, der du bist 
sei!“
„Sei!“. Dies sollte zuerst zur Huldigung des Gottes Apollo dienen, wurde jedoch später gedeutet als Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Existenz. Dies bedeutet ein bewusstes Angeschlossensein an die Quelle, aus der wir als wir selbst in der Welt erscheinen und handeln.
Wir wissen um ein tragendes Gefährt zur Erringung dieser großen Kunst des Lebens:
 Es ist der ATEM 
unser innerstes Gesetz. 
Wo wir uns ihm, unserem Atem, anvertrauen, uns ihm überlassen, ihm lauschen, öffnet sich der Zugang zu unserer Wahrnehmungs-und Empfindungsebene. Das Tor zu unserer inneren Welt tut sich auf. Der Atem trägt uns hinein, findet Raum, durchschwingt ihn. In unserer Hingabe an seinen Fluss, sein Spiel, erwacht in uns das Erleben unseres Selbst, unseres Seins, unseres So-Seins. Das Thema ist unser tiefstes Lebensthema. Mit Hilfe des Atems werden wir lernen, in es einzutauchen, ohne äußere Vorstellung, ohne Angst und ohne Ehrgeiz.
Die meisten hier im Raum sind geübt im Atem, sind Atemlehrer. Ich möchte Euch einladen, zu versuchen, Euch zu trennen von allem Gelernten, Übernommenen, festgelegten, immer schon so Erlebten. Die nicht Atem-Erfahrenen möchte ich ermuntern, neugierig zu sein und auch ein bisschen mutig und sich in das Geschehen einzulassen.
Die Suche nach der eigenen Wahrheit, nach deinem Urgrund
Erkenne dich selbst in dir selbst, d.h.: Wer bist du? Hier wird klar, dass es niemals um ein von außen kommendes „richtig oder falsch“ gehen kann. Da gibt es keine Vergleiche, da gibt es nur die Suche nach der eigenen Wahrheit, nach deinem Urgrund, danach, wie Gott dich gemeint hat.
Von Nikolaus von Kues ist ein Ausspruch überliefert, der es so sagt:
„Während ich im Schweigen der Betrachtung verharre, lässt Du Dich, Herr, in meinem Inneren mit dem Zuspruch vernehmen: Sei dein eigen, dann bin auch ich dein eigen“. 
Und Meister Eckehart sagte: „Wer sich selbst erkennt, der erkennt alles Geschaffene“.
Sich in Hingabe und Achtsamkeit mit seinem Atem verbinden 
Es geht in der Lehre des Atems nicht um ein „atmen, atmen“, sondern der ganze Mensch ist aufgerufen, sich in Hingabe und Achtsamkeit mit seinem Atem zu verbinden, und wenn das gelingt, bleibt es nicht aus, dass er auf einen Weg des Erkennens und des unmittelbaren Erlebens zu einer inneren Wandlung geführt wird. Wir können loslassen. Es öffnen sich Tore; wir dürfen so sein: wach, offen, schauend, lauschend, vertrauend und empfangend.
Ich höre Dr. Schmitt sagen: „Eine Atemschule ist ein Liebesschule.“ Ja, und so ist sie eine Lebens-Schule und eine Schule für den Frieden. Wenn wir das nur begreifen!
Bei Krishnamurti lese ich:
„Was ist es, das dem Menschen Würde verleiht? Selbsterkenntnis, das Wissen, wer du selbst bist. Einem anderen Führer zu folgen, ist der größte Fluch“. Und: „Zu leben ohne authentisch zu sein, ist die einzige Sünde.“
Erkenne dich selbst! Dazu muss ich mir Zeit lassen, muss mich mir zuwenden, mich liebevoll abwarten. Es mir wert sein, dass ich mich mit mir selbst beschäftige, ohne scheinbares „Ziel“. Hier kann es beginnen. Das im Atem zu erfahren, mag vielleicht ganz zart, vielleicht überwältigend sein.
Wo setzt die Übung an? 
Vielleicht mit dem Abwerfen dessen, was wir nicht sind. Wir erleben so vieles, identifizieren uns mit so vielem, was wir nicht sind. Atmend lernen wir, das zu erkennen, uns leer zu machen von Vorstellungen und Gedanken. In der Übung des Lassens fällt Angelerntes, Fremdes und unsere Identifikation damit ab. In uns schwingt unser Leben, unser Rhythmus.
Herta Richter (1925 – 2013)                  
