Grenzen im Wandel

Auszug aus dem Vortrag von Mica Claus zur Eröffnung der AFA – Tagung 2004

Das Buch von Martin Buber beginnt mit einer Frage : Gott fragt Adam : Wo bist Du ? und es ist nicht so, dass Gott nicht wüsste wo sich Adam befindet. Er fragt, weil er mit dieser Frage etwas bewirken will, er möchte, dass der Mensch sich von dieser Frage ins Herz treffen lässt.
Jeder Mensch ist zu jeder Zeit Adam, der gefragt wird: Wo bist Du in Deiner Welt ?
Der Mensch versteckt sich, um der  Verantwortung für das gelebte Leben zu entgehen.
Es kommt darauf an, dass der Mensch sich die Frage stellt, sich aufrühren lässt:
Wo bin ich hingeraten?
Diese Frage kann man nur hören, wenn man ganz stille wird, denn sie ist leicht zu übertönen.
Buber spricht von der Stimme des „verschwebenden Schweigens“.
Erst wenn ich diese Stimme in mir, diese Frage höre, wird mein Leben zu einem „Weg“.

Das Erste in unserer Arbeit ist eine annehmende zugewandte Haltung, die eine Atmosphäre des Vertrauens schafft, in der der Mensch lernen darf, in sich einzukehren, in sich hineinzulauschen, hin zu dem, was ist. Innezuhalten: die Frage zu hören: Wo bist Du ? Sich auf den Weg bringen zu lassen, sich auf den Weg zu machen.

Die Menschen kommen also, oft mit dem Wunsch, „richtig atmen“ lernen zu wollen, oder sie suchen Entspannung, als Ausgleich  zum Eingespanntsein   im Alltag. Sie wollen etwas tun, damit sich etwas ändert.
Und dann ist da ein Raum, in dem sie im besten Sinne einfach einmal sein dürfen, nichts tun müssen. Schon das ist oft eine große Herausforderung: Wenn ich nichts mehr tue, still werde, dann kann erst  noch deutlicher werden was ist: Gedanken, die nicht zur Ruhe kommen wollen, der Rücken, der schmerzt. Die Spannungen sind oft das Erste, was ein Mensch spürt, oder er nimmt das erste Mal wahr, dass er sich noch gar nicht spürt, sich in seinem Leib noch ganz fremd ist.  Und der Atem?  Vielleicht kann man sich dem Atem einfach einmal zuwenden, so wie er jetzt gerade ist, und sich vom Richtig- und Falsch-Denken lösen, und hineinhorchen, zu dem was ist, sich wahr-nehmen, die momentane Wahrheit  erkennen  und annehmen. Denn ich kann ja nur da beginnen, wo ich bin.
Herta Richter, meine Lehrerin, sagt : „Wir alle haben Sehnsucht nach der Wahrheit, auch wenn sie noch so schmerzt.“ Das haben wir sicher alle in unserer Arbeit immer wieder, oft auch leidvoll, erfahren, erfahren dürfen.
In dem geschützten Raum, in dem diese Erfahrung zugelassen werden kann, hört der Mensch die Frage: Wo bist du? Und lässt sich berühren, beginnt den Weg – zu  sich hin.

Und das zweite Kapitel heißt nun :

Der besondere Weg

„Werde, die du bist“, steht im Tempel von Delphi, und auch „Erkenne dich selbst, und du wirst Gott erkennen“.
Ein großes Wort, ein großes Ziel, ein lebenslanger Weg..
Schritt für Schritt kann er gelingen, Stufe um Stufe ist er zu gehen.
Vielleicht kommt der Mensch auf diesem Weg aber auch an eine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Und muss diese Grenze achten,  und diese Grenze muss auch von uns geachtet werden, wenn wir auf diesem Weg Begleiter sind.
Ich möchte Ihnen einen Text von Franz Kafka vorlesen, der wesentlich darüber spricht:

Hast du also einen Weg begonnen,
setze ihn fort, unter allen Umständen,
du kannst nur gewinnen, du läufst keine Gefahr.
Vielleicht wirst du am Ende abstürzen.
Hättest du aber schon nach den ersten Schritten
dich zurückgewendet und wärest die Treppe
hinuntergelaufen, wärst du gleich am Anfang
abgestürzt und nicht vielleicht, sondern ganz gewiss.

Findest du also nichts hier auf den Gängen,
öffne die Türen; findest du nichts hinter den Türen,
gibt es neue Stockwerke; findest du oben nichts,
ist es keine Not, schwinge dich neue Treppen hinauf.
Solange du  nicht zu steigen aufhörst, hören die
Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen
wachsen sie aufwärts.

Der besondere Weg bedeutet, dass jeder Mensch seinen ganz eigenen Weg hat und seine ganz eigene Kraft. Wie bin ich ursprünglich gemeint? – Karlfried Graf Dürckheim spricht davon, dass der Karlfried durch den Dürckheim hindurch muss.  In der Atemarbeit wird der Mensch auf seinem Weg zu seinem wesenseigenen Atem hin begleitet. Wir geben Raum für die ureigensten Erfahrungen, in denen jedes Denken von Richtig und Falsch, oder wie es sein sollte, oder wie es von mir erwartet wird, abfällt. Was ich selbst für mich finde, was ich in mir erfahre, das bin ich, das ist für mich jetzt richtig, ganz unabhängig von dem, was andere erfahren oder was andere für richtig halten. So kann ich immer mehr in den liebevollen und achtsamen Umgang mit mir hineinfinden, hineinwachsen, und mein Wesen entfalten.
Das braucht Geduld – und zur rechten Zeit wird die Entfaltung, die Öffnung geschehen, wie die Mohnblume, bei der der Vorgang der Entfaltung so eindrücklich zu sehen ist.
Es geht darum das Eigene zu entdecken und zu leben.
Cicero drückt es so aus:
„Eines anderen sei nicht, wer sein eigen sein kann.“

Martin Buber schreibt nun in diesem Kapitel:

Es geht nicht an, dem Menschen zu sagen, welchen Weg er gehen soll, zu welchem Weg ihn sein Herz zieht. Wir sollen nichts nachmachen, und nicht Getanes tun, sondern das zu Tuende. Unser Weg liegt darin, es aus eigener Kraft und eigener Art zustande zu bringen.
Mit jedem Menschen ist etwas Neues in die Welt gesetzt, was es noch nicht gegeben hat, etwas Erstes und  Einziges.
Hier sagt Rabbi Sussja kurz vor seinem Tod: Man wird mich nicht fragen, warum bist du nicht Mose gewesen, man wird mich fragen, warum bist du nicht Sussja gewesen?
Denn alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen.

Wie können wir nun den Menschen in diese Freiheit begleiten ?
Indem wir als Erstes ganz grundlegend arbeiten, die tragende Basis erfahrbar werden lassen, das Getragensein und die Verankerung in der Tiefe, und ebenso ist auch die Arbeit am inneren Halt wichtig, dem Atem.  Bin ich getragen und gehalten und ist die Aufrichtung von innen her möglich, so bin ich damit in die innere Freiheit hineingewachsen, aus der heraus ich mein Ureigenstes erkennen und immer mehr leben kann.

Der dritte Teil des Buches  „Der Weg des Menschen“ hat die Überschrift „Entschlossenheit“ und  ist für mich erst einmal nicht so leicht zugänglich gewesen. Er spricht davon, dass unser Leben keine „Flickarbeit“ sein soll. Der Flickarbeit gegenüber steht die Arbeit aus einem Guss.
„Wie aber vollbringt man eine Arbeit aus einem Guss? Nicht anders als mit geeinter Seele. Es ist die Lehre, dass der Mensch seine Seele zu einen vermag, und mit Seele ist gemeint, der ganze Mensch, Leib und Geist miteinander.
Der Mensch der so eine Einheit aus Leib und Geist wird, dessen Werk ist Werk aus einem Guss.“

Was bedeutet das für unsere Arbeit?
Wir arbeiten nie an etwas Isoliertem. Immer ist der ganze Mensch gemeint und angesprochen. Für mich hat das Romano Guardini am deutlichsten gesagt: „Der Atem ist das schwingende Band zwischen Körper, Seele und Geist“.
Auch die Worte: „Alles Leibliche mündet in Geistigkeit, und alles Geistige mündet in Leiblichkeit“ drücken deutlich aus, was hier gemeint ist.
In einer gelungenen Gruppenstunde wird die Erfahrung von Ganzheit möglich, wenn ein Angebot ins nächste mündet, und die Übung sich zur Seinserfahrung verdichtet, oft jenseits aller Worte. Wir hören dann  vielleicht von einer Teilnehmerin : „Diese Stunde war wie nur für mich gemacht.“
Wir tauchen ein in die Erfahrung, wie in einen Fluss, werden eins mit dem Atem – es ist wie aus einem Guss.
Dies gilt auch für die Begegnung mit einem Menschen in der Behandlung. Sicher kann dies nicht immer gelingen; es ist, wenn es geschieht, ein Geschenk. Wir müssen uns immer wieder neu auf den Weg machen und uns dabei von Vorstellungen, von Erwartungen und vom  Wollen lösen können um ganz in die Begegnung einzutreten.

Nach der Frage „Wo bist du?“, dem eigenen Weg und der Arbeit aus einem Guss, fährt nun Buber im 4. Kapitel fort mit dem Aufruf zu einem fragenden Schüler hin : Rede zu dir selber! Und dieses Kapitel ist überschrieben :  Bei sich beginnen!

Ich zitiere:
„Der Ursprung des Konflikts zwischen mir und meinen Mitmenschen ist, dass ich nicht sage, was ich meine, und dass ich nicht tue, was ich sage.  Die chassidische Lehre weist von der Problematik des äußeren Lebens auf die des inneren.
Hier heißt es, der Mensch ist aufgerufen, sich „zurechtzuschaffen“.
Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern.
Der Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst. Erst wenn der Mensch in sich selbst den Frieden gefunden hat, kann er daran gehen, ihn in der ganzen Welt zu suchen.“

Wieder versuche ich zu verstehen und diese Worte zu unserer Arbeit in Beziehung zu setzen:
Meine Erfahrung ist, dass, wenn ich mich selbst verändere, so verändert sich auch die Welt, die mich umgibt, insbesondere die Beziehung zu den Menschen, mit denen ich lebe, denen ich begegne. Der Volksmund sagt: so wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Es ist der Weg, der von meinem egozentrischen Ich, das bewertet und vergleicht, das Neid und Schuld kennt, wegführt, hin zum „tiefen Selbst der mit der Welt lebenden Person“ (so Buber).
So manches, was hiermit gemeint ist, ist schon in den vorangegangenen Abschnitten angeklungen.
Es geht in unserer Arbeit darum, immer tiefer einzudringen in das Verstehen, in die Erfahrung des alles durchdringenden, aufdeckenden und verbindenden Atems, in das zutiefst Heilende, das er uns schenkt.

Dieses Kapitel weist bereits auf das folgende hin, das die Überschrift trägt:
„Sich mit sich nicht  befassen.“
Was nichts anderes meint als: Bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden. Von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen. „Man soll sich vergessen und die Welt im Sinn haben.
Unrechtes hast du getan? Tu Rechtes ihm entgegen.
Der Hochmütige, der sich selbst meint, der Demütige, der bei allem die Welt meint: Der Mensch, der nicht sich meint, dem gibt man alle Schlüssel.“

Buber gibt hier drei Hinweise, die wesentlich  für uns als  Therapeuten sind:
1.    jeder soll seine eigene Seele in ihrer eigenen Art bewahren und an ihrem eigenen Ort, nicht aber fremde Art und fremden Ort neiden
2.    jeder soll das Geheimnis der Seele seines Mitmenschen ehren und nicht frech in sie eindringen und es gebrauchen.(Macht und Bestätigung)
3.    sich nicht so wichtig nehmen (sich hüten, auf sich abzuzielen)

Wenn Menschen zu uns kommen, und  uns bitten, sie zu begleiten, und sich damit uns anvertrauen, so nehmen  wir große Verantwortung auf uns. Mit diesen drei Hinweisen können wir uns immer wieder hinterfragen.
 
Im Üben kann es geschehen, dass wir uns ganz selbst vergessen und in achtsamer Selbstvergessenheit das Wesentliche  erfahren können. Das ist nur möglich, wenn wir kein Ziel vor Augen haben, und keine Vorstellung davon, wie es sein wird bzw. sein soll. Wir machen uns vertrauensvoll auf den Weg in die Übung hinein, und wir können noch nicht wissen, was geschehen wird.

Das sechste Kapitel, mit dem der Weg des Menschen hier abschließt, heißt :

„Hier, wo man steht“

„Es gibt etwas, dass du nirgends in der Welt finden kannst, und es gibt doch einen Ort, wo du es finden kannst.  Und der Ort, an dem dieser Schatz zu finden ist, ist der Ort, wo man steht.
Wir fühlen den Mangel und bemühen uns in irgendeinem Maße immer, irgendwo das zu finden, was uns fehlt. Irgendwo, nur nicht da wo wir stehen, da wo wir hingestellt worden sind. Was mir Tag für Tag begegnet, was mich Tag für Tag anfordert, hier ist meine wesentliche Aufgabe und hier die Erfüllung des Daseins, die mir offen steht. Wir sollen eine echte Beziehung zu den Wesen und Dingen entfalten, an deren Leben wir teilnehmen. Tag um Tag diesen kleinen Begegnungen geben, was ihnen zukommt. Wir sollen den Umgang mit der uns anvertrauten kleinen Welt pflegen.
Wo wohnt Gott? Da wo man ihn einlässt. Man kann ihn aber nur da einlassen, wo man steht, wo man lebt.“

Für mich haben diese Worte mit Bewusstsein und „Annehmen, was ist“  zu tun. Meine innere Stimme zu hören und ihr zu vertrauen, mich führen lassen. Alltag als Übung. Wo bin ich gegründet in meiner Welt? Und die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, für das, was ich tue, an dem Platz, wo ich stehe.

Der Weg hat uns von der Frage „Wo bist du?“ zur Antwort „Hier wo man steht“ geführt. Alles, was uns auf dem Weg begegnet ist, wird uns auch weiterhin begleiten, und uns immer wieder innehalten lassen. Rilke sagt, solange wir fragen, wachsen wir in die Antworten hinein. In diesem Sinne wünsche ich uns Fragen und Antworten auf diesem Symposion  und ein gutes Miteinander.

Mica Claus, München